LAEMMLITEXT ANDREA LÄMMLI, DIE TEXTERIN IN SOLOTHURN
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Das Mädchen aus der U-Bahn

3/12/2014

 
An einem Septembersonntag vor zwei Jahren fuhr ich mit der U-Bahn raus aus der Stadt, um mir im Wald den letzten Männerabend aus Brummschädel und Magen zu joggen. Meine Laufschuhe drückten an der linken Achillessehne und ich nahm mir vor, endlich ein Paar bequemere zu kaufen. Solch trivialen Gedanken nachhängend ahnte ich nicht, dass mir diese U-Bahnfahrt noch lange im Gedächtnis bleiben würde.

Ich steige ein, der Wagen ist fast leer. Schräg gegenüber sitzt ein alter Mann, grau in grau, eine Plastiktüte in der Hand. Hinten im Wagen steht ein Junge mit Milchgesicht, Skinny-Jeans und Converse Schuhen. Eine junge Frau mit raspelkurzer Frisur steht in der Mitte des Wagens und lächelt mich flüchtig an, als ich einsteige. Es ist ein scheues Lächeln, es dauert eine Sekunde, vielleicht auch nur eine halbe. 
Sie wendet ihren Blick sofort wieder ab und schaut auf den Boden. Ich nutze die Gelegenheit, sie zu betrachten. Sie ist nicht schön, aber sie hat etwas anziehendes. Sie ist zart und anders.  
Sie trägt eine leichte, übergrosse Stoffhose, Ledersandalen mit feinen Riemchen und ein olivegrünes Shirt.

Sie spürt wohl, dass ich sie betrachte, denn unsere Blicke begegnen sich wieder und ich fühle mich ertappt. Ich habe sie, gedankenverloren, viel zu lange gemustert.

Im Moment unseres zweiten Blickkontaktes klingelt ihr Handy. Sie nimmt es aus ihrer Stofftasche und als sie auf das Display schaut, verändert sich ihr Gesichtsausdruck schlagartig. Auch ihr Körper ist plötzlich angespannt, fast starr, selbst ihre Lippen scheinen mir schmaler als vorher. Sie sagt leise „hallo", danach spricht sie kein einziges Wort mehr. Am anderen Ende der Leitung muss wohl jemand sehr aufgebracht sein, denn ich höre leise das Auf und Ab einer lauten Stimme. Das Ohr am Telefon, sucht ihr Blick den meinen erneut. Fast flehend, scheint mir, blicken mich ihre Augen an. Ich bin jetzt Teil von etwas, das ich nicht verstehe und das mich nichts angeht. Es ist mir unangenehm. Als die Frau ihr Handy zurück in die Batiktasche steckt, schaut sie mich wieder an, ich glaube, sie hat Tränen in den Augen.

„Klarastrasse", tönt es aus dem Lautsprecher. Sie steht auf, nimmt ihre Tasche und bewegt sich langsam an mir vorbei Richtung Tür; unsere Augen begegnen sich erneut, ganz kurz, dann steigt sie aus. 

Ich habe den unerklärlichen Reflex mich zu erheben und ebenfalls auszusteigen, obwohl erst die übernächste Station meine ist.
Ich zögere einen Moment zu lange, denn schon höre ich das Warnsignal der Türe, die sich kurz darauf wieder schliesst. Ich fühle mich merkwürdig ausgelaugt und habe das Gefühl, das Mädchen im Stich gelassen zu haben.

Während meiner Joggingrunde im Wald konnte ich an nichts anderes denken. Mit wem hat sie telefoniert? Was tut sie gerade jetzt? Was geschieht mit ihr?
Auch in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten ging sie mir nicht mehr aus dem Kopf.

Die Abstände meiner Gedanken an sie werden länger, die Erinnerung an diese merkwürdige Begebenheit verblasst immer mehr, aber noch heute, fast zwei Jahre später, frage ich mich manchmal, was damals geschehen wäre, wenn ich in der Klarastrasse ausgestiegen wäre.

Ich habe sie nie mehr gesehen, obwohl ich die U-Bahn-Strecke zum Wald fast jeden Sonntag fahre, um meine Runden zu drehen.

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​Andrea Lämmli-Rudolf - Texterin mit eidg. Fachausweis - 4500 Solothurn
M +41 76 568 13 33
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